Gewalt während der Geburt
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung sind. Einserseits ungefragt Ratschläge erteilen, anstarren, berühren ohne Zustimmung. Andererseits aushalten, das eigene „Nein“ unterdrücken, es anderen Recht machen wollen.
Warum sollte das bei Geburt plötzlich aufhören?
Doulas und Krankenpflegepersonal berichten in 30% der Fällen von verbaler Gewalt. Zum Beispiel in Form von leeren Drohungen wie “playing the dead baby card” (das Baby würde sterben, wenn die Frau eine Behandlung ablehne), um Zustimmung zu erhalten, sowie vom Fehlen von „informed consent“ (Morton et al., 2018).
Ich höre seit Jahren immer und immer wieder ähnliche Geschichten bei der Geburtsaufarbeitung.
Falsche Informationen, Drohungen, fehlende Zustimmung, keine Informationen, erzwungene Interventionen – die Liste geht weiter…
Was ist Gewalt während der Geburt? Welche Formen von Gewalt während der Geburt gibt es?
Eine Auswahl an Grenzüberschreitungen während der Geburt (nach Khosia et al., 2016):
1. verbaler Missbrauch (Chadwick et al., 2014):
- harte, unverschämte Sprache
- anklagende, beurteilende, bewertende Kommentare
- Einschüchterungen, unter Druck setzen, Drohungen, die Behandlung zurückzuhalten oder schlechte Ergebnisse zu erzielen (z.B. „Wollen Sie, dass Ihr Kind stirbt?“)
- Schuldzuweisungen (z.B. Schuld an schlechten Ergebnissen zuschieben)
- die eigene (Körper-) Wahrnehmung absprechen (z.B. „Die Schmerzen bilden Sie sich ein.“)
- zwingen (z.B. auf die Toilette zu gehen)
2. körperlicher Missbrauch
- körperliche Einschränkung (z.B. während der Geburt körperlich am Bett festgehalten oder geknebelt werden)
- Gewaltanwendung: während der Geburt geschlagen, geschlagen, getreten und gezwickt werden (Bohren et al., 2015)
- gewaltsam durchgeführte Interventionen (z.B. Kristellern)
3. sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung
- Sexualisierung der gebärenden Frau (z.B. „husband stitch“)
- gewaltsames und schmerzhaftes Einführen von Gegenständen oder Händen in die Frau
4. Stigmatisierung und Diskriminierung basierend auf Alter, sozioökonomischer Status, Geschlecht, gesundheitlicher Konstitution etc.
5. Nichteinhaltung professioneller Pflegestandards
- Untersuchungen/ Interventionen ohne adäquate Aufklärung der gebärenden Frau (z.B. Aufklärung unter einer Wehe, einseitige Aufklärung)
- Mangel an Vertraulichkeit (persönliche Informationen erfragen oder weiter geben)
- Untersuchungen/ Interventionen ohne Einverständnis/ Wissen der Frau (z.B. Eipollösung)
- Untersuchungen/ Interventionen gegen den Willen der gebärenden Frau (in 20% der Fälle – Morton et al., 2018)
- Verwehrung der gewünschten Behandlung (z.B. Schmerzmittel)
- Vernachlässigung und Zurücklassen (z.B. lange Verzögerungen)
6. Schlechtes Verhältnis zwischen Frauen und Anbietern
- Ineffektive Kommunikation: die Einwände der Frau nicht beachten, schlechte Einstellung des Personals, schlechte Kommunikation
- Verweigerung oder Aufdrängen von Geburtsgefährten
- Verlust der Autonomie: Frauen, die während der Geburt als passive Teilnehmer behandelt werden; Verweigerung von Nahrungsmitteln, Flüssigkeiten und Mobilität; Mangel an Respekt für die bevorzugten Geburtspositionen von Frauen; Verweigerung sicherer traditioneller Praktiken; Objektifizierung von Frauen; Inhaftierung in Einrichtungen
- Abmachungen nicht einhalten
- Überredung und Manipulation
- ignorieren
- lügen
7. Bedingungen und Einschränkungen des Gesundheitssystems
- Mangel an Privatsphäre
- Personalmangel
- Mangel an Wiedergutmachung
- Einrichtungskultur (z.B. Bestechung und Erpressung, unangemessene Fragen des Gesundheitspersonals)
Rechte, die bei Gewalt während der Geburt verletzt werden (Khosia et al., 2016)
- Recht auf Gewaltfreiheit
- das Recht, frei von Folter und anderen Misshandlungen zu sein
- Recht auf Nichtdiskriminierung
- das Recht auf Gesundheit
- Recht auf Privatsphäre (einschließlich körperlicher und geistiger Unversehrtheit)
- das Recht, frei von Praktiken zu sein, die Frauen und Mädchen schaden
- Recht auf Information
- das Recht, über Anzahl, Abstand und Zeitpunkt der Kinder zu entscheiden
Wie kommt es zur Gewalt während der Geburt?
Warum erkennen wir Warnsignale, aber handeln nicht danach?
Wie könnte die Prävention der Gewalt unter der Geburt aussehen?
1. Mythen entlarven
2. Wie selbstbestimmt oder gehorsam bist du?
Fragst du dich, was du darfst, bevor du dich fragst, was du willst?
Wenn du dich fragst, was du willst, siehst du dich mit dem konfrontiert, was nicht möglich sein soll?
Es braucht immer deine Zustimmung für eine medizinische Handlung.
Sei dir bewusst, dass du immer die Wahl hast.
Mach dir bewusst, für wen die Geburt ist – für dich.
Sei dir bewusst, dass du jede Behandlung ablehnen und stoppen kannst. Und dass du deine Entscheidung auch nicht rechtfertigen musst (notfalls Revers unterschreiben!).
Selbst wenn die Information, die dir gegeben wurde, sich als zutreffend herausstellt, ist es immer noch deine Verantwortung wie du entscheidest. Niemand kann „in deinem Sinne“ entscheiden.
Für eine Frau ist es wichtig, dass ihre Stimme ernst genommen wird. Und dass getan wird, wonach sie verlangt. So kann sie nach der Geburt immer noch Vertrauen zu anderen Menschen, ihren Körper und sich selbst haben.
Meide Menschen, die dir Angebote als „ein Muss“ verkaufen wollen.
Beispiele für eine Sprache, die verdeckt, dass eine Frau über sich und ihren Körper selbst bestimmen kann:
- „Ich kann die Verantwortung für dein Baby nicht mehr übernehmen.“
- „Ich gebe dir nun XYZ.“ statt „Ich kann dir XYZ anbieten, wenn du möchtest.“
- „Du brauchst…“/ „Du musst…“ statt „Möchtest du…?“
Bestehe auf „Informed Consent“. Aufklärung bildet die Basis für eine Zustimmung oder Ablehnung.
Wenn du möchtest, kannst du das VRAIN-Modell dazu verwenden:
- Was sind die Vorteile?
- Was sind die Risiken?
- Welches sind die Alternativen?
- Was sagt meine Intuition?
- Was passiert, wenn wir Nichts tun?
(Englisch BRAIN: Benefits/ risks/ alternatives/ intuition/ nothing)
Und überprüfe die Erklärungen und Informationen, die du von anderen erhältst!
Letztlich: Nimm dir Zeit für deine Entscheidungen.
3. Hör auf dein Körpergefühl
Du bist einzig und allein die Expertin für dich. Nur du weißt, was das Beste für dich und dein Baby ist.
Geh keine faulen Kompromisse ein. Respektiere dein eigenes „Nein“.
Suche die Nähe von Menschen, die dich in deinem Weg bestärken und denen du voll und ganz vertrauen kannst.
Meide solche Menschen, die dir Ängste einreden und dich versuchen, in eine Richtung zu manipulieren. Genauso wie solche, die kein Vertrauen in den weiblichen Körper haben oder von denen du dich nicht ernst genommen fühlst. Und nimm sie auf keinen Fall zur Geburt mit!
4. Setze dich mit deinen Ängsten auseinander und prüfe ihren Wahrheitsgehalt
Ängste können von dir stammen, aber dir auch von anderen eingeredet werden.
Eine Sprache, die dir Angst macht, bringt dich dazu, Entscheidungen zu treffen, die du unter anderen Umständen nicht getroffen hättest. Worte wie „sicher“ oder „Risiko“ verdecken zusätzlich, dass es sich um Wahrscheinlichkeiten handelt. Und sie können eingesetzt werden, um dich zu einer Risiko-vermeidenden Entscheidung zu überreden.
Auch wenn der neurotische Gedanke „sicher ist sicher“ in unserer Gesellschaft weitgehend Anerkennung findet, bringt er dich nur dazu, fast allem zuzustimmen.
Fazit
Gewalt während der Geburt ist Gewalt an allen Beteiligte. Und diese wird nach wie vor herunter gespielt und mit Mythen gespickt, sodass sie andauert. Dies als „Geburtshilfe“ zu beschönigen, setzt dem ganzen die Krone auf.
Damit ein Mensch heilen kann, braucht er es, gesehen und gehört zu werden. Und solange Gewalt während der Geburt als Notwendigkeit dargestellt wird, kann dies nicht geschehen. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter, sodass es auch noch unsere Kindeskinder betrifft.
Quellen
Beck, C.T., LoGiudice, J. & Gable, R.K.: A mixed-methods study of seondary traumatic stress in certified nurse-midwives: shaken belief in the birth process. Journal of Midwifery & Women’s Health 2015 Jan/ Feb; 60(1):16-23.
Bohren M.A. et al.: The mistreatment of women during childbirth in health facilities globally: A mixed-methods systematic review. PLoS Med. 2015 Jun 30;12(6):e1001847
Chadwick, R.J. et al.: Narratives of distress about birth in South African public maternity settings: A qualitative study. Midwifery. 2014 Jul;30(7):862-8.
Khosia, R. et al.: International Human Rights and the Mistreatment of Women During Childbirth. Health Hum Rights. 2016 Dec; 18(2): 131–143.
Morton, C.H. et al.: Bearing witness: United States and Canadian maternity support workers’ observations of disrespectful care in childbirth. Birth. 2018 Sep;45(3):263-274.
Ogden, P. & Fisher, J.: Sensorimotor Psychotherapy. Interventions for trauma and attachment. W. W. Norton & Company, 2015
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